Wie SRF News1 berichtet, fragt sich das Bundesamt für Statistik (BFS) in Szenarien zur Bevölkerungsentwicklung, ob die Akademisierung der Schweiz zum Verhängnis werden könnte. Sie weisen dabei auf die wachsende Zahl von Hochschul- und höheren Berufsbildungsabschlüssen hin.
Bildungsökonom Prof. Stefan Wolter stellt fest, dass für diese Entwicklung nicht die Universitäten verantwortlich seien. Die Zunahme sei mehrheitlich getrieben durch die Fachhochschulen und den hohen Anteil der höheren Berufsbildung.
Die Frage sei hier erlaubt, ob Universitäten überhaupt für die Berufsbildung geeignet sind. Wäre es für unsere Volkswirtschaft nicht besser, sie würden sich den Wissenschaften und dabei stärker den exakten und weniger den Geistes- und Sozialwissenschaften zuwenden? Zudem: Ist das höhere Berufsbildungsangebot nicht eher eine Geldmacherei für diese Institutionen? Diese Fragen stehen somit unbeantwortet im Raum. Im Folgenden stellt sich die Berufsbildung als professioneller Entwicklungsweg vor.
Aus- und Weiterbildung sind in den Medien ein ständiges Thema. Die Marketingabteilungen der Bildungsindustrie versorgen die Redaktionen regelmässig und gratis mit Artikeln. Dabei bevorzugen Zeitungen und elektronische Kanäle eher die eloquenten Studien und Manifeste der akademischen Anbieter. Artikel zur Berufsbildung gelangen meist erst in die Medien aufgrund eines Tagesereignisses und behandeln selten konzeptionelle Fragen. Wen wundert’s, dass die Öffentlichkeit sich deshalb kein klares Bild von den etwa 250 schweizerischen Berufen machen kann. Deren Ziele, Aufbau, Inhalt, Kultur oder vermittelte Kompetenzen samt beruflichen Werdegängen bleiben vielen verborgen. Das Berufsbildungskonzept ist vielen auch nicht oder zu wenig bekannt. Im Folgenden soll sich das ändern.
Ein einzigartiges, aber gutdokumentiertes Beispiel für einen beruflichen Werdegang führt uns zu Sergei Rachmaninoff2. Sein Pianospiel schmeichelt dem Gehör vieler Musikliebhaber. Wichtig waren dem Pianisten und Komponisten der Körper und der Klang des Instruments. Mit grossen Händen bearbeitet er die weissen Tasten. Damit veranlasste er Saiten zu einzigartigen Schwingungen und unverwechselbaren Klängen. Aufmerksame Zuhörer folgen noch heute gern dem Atem dieser Musik. Doch bis zur Meisterschaft durchlief auch Rachmaninoff verschiedene Lern- und Entwicklungsphasen.
Mit grossem Wissen und Können schuf Rachmaninoff feine Hörerlebnisse. Warum steht er aber hier im Kontext von Wissen, Können und Anwendung? Ganz einfach: Berufliche Ausbildung – wie auch künstlerische Entwicklung – läuft stets gleich ab. In der ersten Lernphase haben alle Berufenen und Euphorischen ihren Platz. Die ersten Anwendungen schüren dann das fachliche, technische und organisatorische Interesse. Gleichzeitig wird das fachliche Vokabular aufgefüllt. Dann erfolgt der systematische Erwerb der Technik. Mit zunehmend schwierigeren Aufgaben und Situationen werden Lernende mit den erfolgreichen «tours de main» vertraut. Ausdauernde gelangen dann zur Meisterschaft. Talente fallen aber nie vom Himmel. Wo Auszubildende ihre Nische und den «Brotkorb» finden, ist in jedem Fall eine Frage des Durchhaltewillens. Letztlich bestimmt aber die Nachfrage, ob der Mensch auf dem Stellenmarkt ankommt.
Aus- und Weiterbildung haben stets mit der Berufswahl und mit dem Lebensstandard zu tun. Für viele befindet sich die Bildungs- direkt neben der Maslow’schen Bedürfnispyramide. Sie verbinden damit meritokratische Ansprüche oder Fairness3. Hart ist es, wenn die Realität anders aussieht. Studien belegen es: Die Reichen sind nicht einheitlich durch die obersten Ausbildungsetagen gewandert. Die Mittelschicht besteht aus vielen gut ausgebildeten, oft aber nicht voll auf Touren gekommenen Menschen. Und es gibt überall auch Arbeitssuchende. Mannigfach sind die dialektisch angewandten Argumente und Karriereeingriffe von Bildungsaffinen, um dieses Bild zu schönen.
Produktions- und Problemlösungsfähigkeit sind stets im Visier der Arbeitgeber. So achten sie bei Anstellungen darauf, dass die Mitarbeitenden ausreichend wertschöpfende Kompetenzen mitbringen. Kommen Theorien ins Spiel, so ziehen sie oft akademisches dem praxisorientierten Personal vor. Missverhältnisse im Personalbestand führen aber stets zu Zeit- und Ertragsverlust. Letztlich sind praxis- und theorieorientierte Leute heute aufeinander angewiesen, um Mittel und Methoden effizient einzusetzen. Wie die Praxis aber zeigt, erzeugen Diskussionen um Theorien und Methoden häufig weniger Wertschöpfung und oft Zeitverlust. Was die Berufsleute in der Praxis zeitablauf- und mengenmässig produzieren, ist also häufig wichtiger. Es sind diese Erkenntnisse, welche die jungen Leute dazu veranlasst, ihrer Neigung entsprechend den beruflichen (Tertiär-B-) oder den theoretischen (Tertiär-A-) Weg zu einzuschlagen.
Jeder berufliche Weg führt über die Grundausbildung, zur Sach-, Fach- und dann zur Meister- oder Expertenstufe. Sprach- und Fachwissen mit Fokus auf Handlungskompetenzen verlaufen parallel zum Stand des Könnens. Gleichzeitig müssen sich Lernende die nötigen Selbst- und Sozialkompetenzen aneignen. Nur so lassen sie sich auch in Teams einbauen. Dabei sind Ausbildner ständige Begleiter. Umso besser, wenn sie Vorbilder für ihre Studierenden und Lernenden sind. Wirklich effizient sind Lehrkräfte, Lektoren und Professoren aber nur, wenn sie früher auf der eingesetzten Stufe exzellente professionelle Arbeit geleistet haben. Wie Studien belegen, sind solche Vorbilder bedeutungsvoll für das berufliche Bildungssystem.
Im zunehmend komplexen beruflichen Umfeld spielt anwendungsbezogenes Wissen eine wichtige Rolle. Die höhere Berufsbildung gewinnt deshalb an Bedeutung. Auf dieser Stufe werden neue Theorien ergänzt durch die dafür notwendigen Mittel und Methoden vermittelt. Das berufliche Ausbildungs- und Qualifikationsverfahren mit den Prüfungen eignet sich vorzüglich dafür.
Jedes vom Staatssekretariat für Bildung, Forschung und Innovation (SBFI) akzeptierte Berufsbild unterzieht sich dem gleichen Prüfungsprozedere. Grundsätzlich orientiert es sich an den beruflichen Handlungskompetenzen. Der Grundbildung folgt in der beruflichen Weiterbildung die Sachbearbeiterstufe. Daran angeschlossen ist die Ausbildung der Fachleute (eidg. Fachausweis). Der krönende Abschluss bildet die Meister- oder Expertenstufe (Höhere Fachprüfung mit dem eidg. Diplom). Letzteres bewegt sich im Qualifikationsrahmen meist auf den höchsten Stufen. Wesentlich dabei ist, dass die Prüfungsvorbereitung stets parallel zum Praxiseinsatz erfolgt.
Jede Bildungsphase wird mit einer mehrtägigen Prüfung abgeschlossen. Examen können nicht abgestottert werden. Zudem werden Examen stets von unabhängigen Experten unter Aufsicht des SBFI abgenommen. Erfahrungsnoten gibt es nicht. Und bisherige Lehrer, Dozenten, Lektoren und Professoren dürfen nicht als Prüfungspersonen amten. Der «Studienphase» folgt stets der entsprechend qualifizierte Praxiseinsatz. Das ist wesentlich für den Erfolg des schweizerischen Berufsbildungssystems. Lohnstatistiken belegen, dass diese praxis- und stufenorientierte Ausbildung für alle Absolventen vorteilhaft ist.
Die berufliche Ausbildung verläuft parallel zum Studium. Sie ist aber stets eingebettet in den Praxisalltag. Nach Abschluss jeder Ausbildungsstufe lässt sich auch entscheiden, ob die nächste Phase in einem anderen Praxisumfeld absolviert werden soll. Die Erwerbswirtschaft begleitet dabei die Berufsleute ununterbrochen. Dabei kommen auch die Fremdsprachenausbildung und Auslanderfahrung nie zu kurz. Beruflich Gebildete beanspruchen denn auch selten oder nie die internationalen Studienabkommen und Finanzierungen, um sich im Ausland bewegen zu lernen. Das alles gehört eben auch zur Bildungseffizienz.
In der Berufsbildung verlaufen Praxis und Studium, also die gezielte Prüfungsvorbereitung, stets in unterschiedlichen Personenkreisen. Wesentlich ist im Bildungskanon die Bedeutung von Lehrmeistern, Ausbildnerinnen, Dozenten, Kundinnen, Lieferanten usw. Viele davon kennen die Bedeutung der beruflichen Ausbildung und des Erfahrungserwerbs. So gehört die fachliche Praxis mit der Lern-, Arbeits-, Führungs- sowie fachlichen Technik zum Alltag.
Schulmanager und Dozenten propagieren gerne das Selbststudium. In der Berufsbildung hat sich jedoch die Ausbildungsbegleitung bewährt. Dabei sind fachliche und menschliche Qualitäts- und Effizienzfragen an der Tagesordnung. Fehlerkultur als Lehrthema wird somit überall entwickelt. Absolventen müssen nicht noch extra in Resilienz geschult werden; beruflich Beschulte können deshalb mit Leistungsdruck oft besser umgehen. Sie verfügen über die – wie die Uhrmacher sagen – nötige Laufruhe, Präzision und Gangreserve. Verfeinerte Analysen von Anstellungsbedingungen zeigen, dass beruflich systematisch Ausgebildete noch heute ein volles Arbeitspensum ertragen können. Diese Leute bezahlen also garantiert die in sie investierten «Studiengelder» über Arbeitsleistung und Steuern an die Gesellschaft zurück.
Interdisziplinare berufliche Stufen sind wesentliche Teile der dualen Berufsbildung. Das ist die Domäne vor allem der Berufsfachschulen und der Ausbildungsinstitute der Höheren Berufsbildung. Sie schaffen die notwendige Schicht an fachlich belastbaren und flexiblen Profis. So benötigen z.B. ausgebildete Kaufleute nicht noch einen Master in Business Administration. Die monothematisch ausgerichteten Universitäten sind denn auch besser auf Berufe fokussiert, die sich mit exakten Wissenschaften und MINT-Fächern befassen. Fraglich ist aber schon, ob Unis die richtigen Ausbildungsstätten für berufliche Felder sind. So folgt die betriebliche Praxis nicht nur der Logik der Ökonomie. Was nützt es, wenn z.B. überrissene Boni nur mit monothematischen Argumenten4 begründet werden, juristische oder andere soziale Gründe aber übersehen werden? Wer nicht bei einer Grossunternehmung oder grossen Verwaltung arbeitet, der spürt ab dem ersten Arbeitstag, dass ständig mehrere Fähigkeiten gemeinsam verlangt werden. Bildungsinstitutionen, die das heute erkennen, ergänzen ihren Namen mit «applied sciences».
Wirtschaft und Politik mit dem gesamten Bildungssystem müssen die Dringlichkeit erkennen: Berufsbildung ist für unsere Volkswirtschaft das Lebenselixier. Die Wirkung von Veränderungen ist somit für alle spürbar. Berufs- und Fachhochschulen sowie Fachverbände sollten idealistischen Eifer durch einen strategischen Neustart ersetzen. Anders gesagt: Die Protagonisten der beruflichen Bildung müssen den Reformbedarf erkennen und sich besser koordinieren.
Was in der Lehre gelehrt wird, beginnt im Kleinen: Forschungs- und Entwicklungsarbeiten von Klein- und Mittelbetrieben tragen aber eben so viel bei zu Innovationen wie diejenigen der Grossunternehmen. Der Unterschied liegt aber im Bekanntheitsgrad der Unternehmen und deren Fähigkeit. KMUs verdienen jedoch mehr Aufmerksamkeit. Die Berufsbildungsforschung ist deshalb nicht nur den akademischen und staatlichen Institutionen zu überlassen; zu oft werden deren Anstrengungen nur zur Optimierung der bestehenden Bildungsinfrastruktur und des Lehrkörpers eingesetzt. Berufsverbände, und dabei nicht nur diejenigen der ertragskräftigen Branchen, müssen sich aufraffen, diese Disziplin in neuen Kooperationen zu pflegen.
Berufsbildung benötigt eindeutig mehr Mittel. Dass deshalb u.U. die Bundes- und Kantonssubventionen stärker umzuverteilen sind, sollte die sonst davon profitierenden Bildungsstätten nicht sorgen; sie erhalten künftig mathematisch und sprachlich besser vorbereitete Studenten und Wissenschafter.
P.S. Weiterführende Informationen finden sich in der Publikation des BA für Statistik zum Thema «Ausbildungssituation der Kandidatinnen und Kandidaten der höheren Berufsbildung www.bundesamtfürstatstik.ch
Angaben zur Finanzierung (Öffentliche Hand, Firmen oder Privat), Abschlussbezeichnungen, Ausbildungsorte usw. finden sich in den Unterlagen des B für Statistik
[1] SRF News 23.4.2025, Livia Middendorp: Wird die Akademisierung der Schweiz zum Verhängnis
[2] Sergei Wassiljewitsch Rachmaninow, russischer Pianist (*1.4.1873, †28.3.1943), Serge Rachmaninoff Foundation, Weggis
[3] NZZ 15.04.25, S. 22, «Ich denke, dass noch viel auf uns zukommt» Die Harvard Professorin Iris Bohnet beschreibt im Gespräch mit Christin Severin und Aline Wanner die Wut gegen alles Woke in den USA, die jetzt nach den Firmen auch die Unis trifft. …
[4] Z.B. NZZ, 3.04.25, Margit Osterloh: Hohe Managersaläre – Anstoss erregt das Verfahren – Anders als hohe Einkommen in Sport oder im Showbusiness stossen exorbitante Managerlöhne auf regelmässig auf Kritik, weil hier der offene und transparente Wettbewerb fehlt.