Notwendigkeit und Grenzen der Flexibilisierung in einer Organisation und Bedeutung für die interne Kommunikation

Disruptive Marktentwicklungen erfordern agile (Duden: flinke, bewegliche …) und resiliente (Duden: widerstandsfähig gegenüber psychischer Belastung) Unternehmenskulturen und -strukturen. Die Flexibilisierung dieser Strukturen ist einer der Schlüssel, um der Konkurrenz im Wettbewerb den entscheidenden Schritt voraus zu sein. Wo die Grenzen der Flexibilisierung liegen und was die Flexibilisierung für die interne Kommunikation bedeutet, lesen Sie hier.

Joachim Tillessen, Studiengangleiter MAS in Unternehmenskommunikation, FHNW

Zentralisierung oder starre Strukturen reduzieren das wettbewerbsentscheidende Entwicklungstempo einer Organisation und blenden häufig wettbewerbsunterstützendes, dezentral und an der Basis vorhandenes Knowhow aus. Das Konzept für mehr wettbewerbsentscheidende Flexibilität liegt im Organisationsprinzip der heterarchischen Hierarchie. (div. Quellen:  Heterarchie (griechisch ἕτερος heteros = der Andere und ἀρχεῖν archein = herrschen) System von Elementen, die nicht in einem Über- und Unterordnungsverhältnis stehen, sondern – mehr oder weniger – gleichberechtigt nebeneinander bestehen, Komplement zu Hierarchie). Dieses Prinzip ist ursprünglich Teil der sogenannten „postmodernen“ Organisationsentwicklungen und wurde etwas zeitversetzt von den Ansätzen des Kommunikationsmanagements aufgegriffen.

Der heterarchische Ansatz ist Folge der zunehmenden Unzulänglichkeit des bisherigen hierarchischen Prinzips in einer laufend sich ändernden Organisations- und Kommunikations-Welt. Er ermöglicht folgende Entwicklungen: (1) Sachebene: adaptiv dezentral statt rigid zentralistisch, (2) Sozialebene: partizipativ selbstregulierend statt autoritär und (3) zeitliche Ebene: flexibel statt starr.

Mit dem heterarchischen Ansatz erhofft man sich gleich mehrere Herausforderungen zu meistern (a) Steuerung eines komplexen System von mehreren Stellen, im konkreten Fall von jener mit den relevantesten Infos, (b) besseres Management des Unbekannten durch mehr organisatorische Flexibilität (Resilienz), (c) Verbesserung von Effektivität (Wirkung) und Effizienz (Ressourcenverbrauch) der Prozesse durch die Dezentralisierung  sowie Erhöhung der gesellschaftlichen Legitimität durch dezentrale Entscheidungsfindung und (d) Optimierung von interner, kompetitiver und adaptiver Bearbeitung von Stakeholderbedürfnissen als Schlüsselfaktor in heterarchisch organisierten Teams.

Der Ansatz der Heterarchie birgt hohes Potenzial in Bezug auf die Wettbewerbsfähigkeit in sich wandelnden Märkten, jedoch auch manche Herausforderungen auf unterschiedlichsten Ebenen. Diese lassen sich am besten im Vergleich mit dem gewohnten Prinzip der Hierarchie erkennen bzw. erklären:

Ebene Hierarchie Heterarchie
Sach-Ebene Stabilisierung allgemein akzeptierten, nicht mehr hinterfragten Organisations-Zweck. Umgang mit Dissonanz (rivalisierendes Nebeneinander) unterschiedlicher Wertvorstellungen, die einen endgültigen ‚absoluten’ Organisations-Zweck nicht mehr zulassen
  Routinen innovativ zu verändern Routinen zur Innovation zu entwickeln
Sozial-Ebene Ausbildung formalisitscher Entscheidungs-prämissen: welche Stelle ist unter welcher Bedingung, zu welcher Form von Entscheidungen autorisiert (inkl. Verantwortung) Ausbildung bzw. formale Festlegung von Entscheidungsprämissen unmöglich, Rückgriff auf sog. unentscheidbare Entscheidungsprämisse (siehe unten)
Zeit-Ebene Vorhersehbare, sequentielle Abfolge zur Unterstützung von Routinen (‚Zweck-Mittel’ bzw. ‚Bedingung-Konsequenz-Relation’) Unvorhersehbar, auf Unerwartetes flexibel zu reagieren
  Lineare Geschichtsschreibung Adaptive, zukunftsoffene Geschichtsschreibung

Abb. 1 „Vergleich Herausforderungen Hierarchie vs. Heterarchie“, eigene Darstellung in Anlehnung an Peter Winkler

Dem aufgezeigten Potenzial und beschriebenen Herausforderungen des heterarchischen Ansatzes bzw. der Flexibilisierung von Strukturen sind jedoch Grenzen gesetzt:

Sach-Ebene: Einerseits soll die Innovationsfähigkeit multipler, ev. gegensätzlicher und grundsätzlich gleichberechtigter Standpunkte gefördert werden. Andererseits ist es praktisch unmöglich organisatorische Positionen und Ordnungen zu verstetigen. Eine formale Festlegung von Entscheidungsprämissen ist praktisch unmöglich.

Sozial-Ebene: Damit sind die Entscheidungsprämissen an die Person ‚hinter der Stelle’ sowie deren persönlichen Beziehungen und Netzwerke geknüpft. Dieser informale Ansatz birgt jedoch auch die Gefahr organisationsschädigender Prozesse[1]. Informale Netzwerke, verdeckte Anreizstrukturen und implizite Denkschemas werden zwar gerne so gestaltet, dass sie im Sinne des Managements wirken. Sie können aber auch zu Willkür und damit zu Diskriminierung führen.

Für die interne Kommunikation bedeuten diese Befunde einen deutlichen Reorientierungsbedarf in Bezug auf die Sach-, Sozial- wie Zeit-Ebene:

Sach-Ebene: Ausgestaltung kommunikativer Orientierung in dissonanten Heterarchien und nicht mehr die Ausrichtung auf den absoluten Zweck einer Organisation. Dazu kann das Orientierungsprinzip des diskursiven Pragmatismus nützlich sein. Das Ziel: Die Etablierung eines kollektiven Verständnisses für eine temporäre Einigung, was jedoch keine Dauerlösung für Unstimmigkeit darstellt.

Die zentrale Funktion der internen Kommunikation: Schaffen einer kollektiven Umsichtigkeit, welche die situative Dringlichkeit spezifischer Entscheidungen verdeutlicht, gleichzeitig aber auch klar macht, dass diese Entscheidung revidierbar ist. Heikel dabei, mit diesem Vorgehen wird auch eine gewisse Zufälligkeit und Unsicherheit in Bezug auf die Entscheidung ins kollektive Bewusstsein transportiert.

Sozial-Ebene: Da die genannten gleichberechtigten, inhaltlich ev. widersprüchlichen Entscheidungsprämissen formal nicht bedient werden können, müssen informale Wege gefunden werden. Eine mögliche Lösung: Ermächtigung der Mitarbeitenden zu Intrapreneuren, also zu Unternehmer im Unternehmen. Damit können persönlich gekoppelte, informale Ressourcen freigesetzt werden, was u. U. auch im direkten Interesse der Mitarbeitenden selbst liegt (Stichwort: Job Crafting).

Aber auch diesbezüglich lassen sich Grenzen erkennen. Zum einen stellen die angewendeten Techniken zur Befeuerung des Intrapreneur-Gedankens  Selbstoptimierungs-Strategien dar, die berufsethisch problematisch sein können (Form der persuasiven Kommunikation? Frage der rechtlichen Verantwortung?). Zum anderen kann die ständige Bedienung der Themen Selbstoptimierung und Kompetitivität unter den Mitarbeitenden organisatorische Formen von Mikropolitik fördern. Kritisch dabei: Dadurch entstehende Reziprozitätserwartungen zwischen den Akteuren können den Interessen und Zielen der Organisation zuwider laufen…

In diesem Kontext ist die Aufgabe für die Kommunikation eine Gratwanderung:

Sie soll einerseits auf der Sachebene die Kontingenz, also die Wahrnehmung einer nicht unbedingt dauerhaften Notwendigkeit von Entscheidungen und auf der Sozialebene die Informalität (Selbstoptimierung und Vernetzung) fördern und gleichzeitig die mikropolitischen Entwicklung im Sinne einer Spielleitung in geordneten d. h. für die Organisation gewünschten Bahnen verlaufen lassen[2].

Schliesslich soll die interne Kommunikation auf der Zeitebene trotz des adaptiven, zukunftsoffenen Charakters von Heterarchien eine kollektiv geteilte Selbstverschreibung der Organisation bewerkstelligen. Ein möglicher Ansatz hierzu, die Polyphonie.

Polyphonie meint in diesem Kontext ein vielstimmiges, lebendiges und anpassungsfähiges Organisationsbild, entstanden durch das Neben- bzw. Miteinander gleichwertiger Organisations-Erzählungen. Aber auch in Bezug auf diesen Ansatz sind den Freiheiten nicht unendlich: Die Polyphonie in der internen Kommunikation wird begrenzt, weil sie u. U. eine Koordination der Erzählungen durch die Kommunikatorin bzw. den Kommunikator bedarf. Es ist ihre bzw. seine Aufgabe, die Geschichten auszuwählen, zu gewichten/priorisieren, einzuordnen und zu kommentieren.

Von polyphonen Deutungsangeboten kann eine Organisation lernen. Manchmal muss sie sich pragmatisch an diese anpassen. Und sollte diese – wieder ein anderes Mal – eventuell zurückweisen.

Dieses Blogbeitrag soll nicht den Eindruck erwecken, dass der Autor das Konzept der Hierarchie als altmodisch beurteilt oder den Ansatz der Heterarchie denunzieren will. Organisationen bewegen sich im Spannungsfeld zwischen ‚Exploration’ und ‚Exploitation’ und beide Organisationsformen haben ihre Stärken. So ist die Entdeckung und Lösung innovativer Problemstellungen auf Heterarchien angewiesen, während Routineabläufe besser von Hierarchien getragen werden. Beide Modelle oder Mischformen haben also ihre Berechtigung.

Quelle:

Peter Winkler: „Grenzen der Flexibilisierung? Bedeutung, Herausforderungen und Konsequenzen der Heterarchie für die interne Kommunikation“ in Simone Huck-Sandhu „Interne Kommunikation im Wandel“, Springer VS, Wiesbaden 2016, ISBN: 978-3-658-11021-5

[1] Kommentar: Die befürchtete „organisationsschädigenden Wirkung“ steht in einem gewissen Widerspruch zum grundsätzlich ergebnisoffenen Ansatzes des Organisationszweckes in einer echten Heterarchie

[2] Spätestens an dieser Stelle stellt sich die Frage nach der (künftigen) Funktion der internen Kommunikation in einer Organisation. Wird sie ‚reduziert’ auf eine ausführende oft freiwillig gewählte journalistische Aufgabe der Informationsverbreitung? Oder ist sie aufgrund ihres Beitrages zu mehr Effektivität und Effizienz in einer Organisation dank einer hohen Qualität des Informations- und Kommunikationssystems integraler Teil der Unternehmensführung?